Giro d’Italia – Im Schatten und auf Augenhöhe mit der Tour de France
Der Giro d’Italia ist die große, dreiwöchige Rundfahrt in Italien und neben der Tour de France sowie der spanischen Vuelta eine der drei Grand Tours im UCI World Tour Kalender. Beim Giro d’Italia handelt es sich, nach der Tour de France, um das zweitälteste Rennen dieses Formats und er bringt es (Stand: 2021) auf 104 ausgetragene Touren. Nur vier weniger als die Tour de France, gleichwohl der Giro d’Italia sechs Jahre nach der Tour de France eingeführt wurde (1909). Das liegt daran, dass es weniger ausgefallene Rennen in der bewegten Geschichte des Giro zu verzeichnen gab.
Auszeichnungen und Trikots beim Giro d’Italia
Beim Giro d’Italia wird, wie auch bei der Tour de France und der Vuelta, um diverse Kategorien gefahren. Da wäre natürlich der Gesamtsieg für den Fahrer, der alle Etappen (einschließlich Zeitgutschriften durch starke Platzierungen) in der kürzesten Zeit absolviert. Er trägt das rosa Trikot und führt das Gesamtklassement an. Und ebenso wie bei der Tour de France gibt es eine Auszeichnung für den erfolgreichsten Sprinter/Etappenjäger – die sogenannte Punktewertung. Die Trikotfarbe für den nach Punkten Führenden unterlag historisch mehrfach Veränderungen und war zeitweise rot, zeitweise lila (angelehnt an die Farbe von Alpenveilchen). Letztere Farbe wird auch aktuell wieder verwendet.
Selbstverständlich gibt es beim Giro d’Italia eine Bergwertung für den besten Gipfelstürmer. Jeder überquerte Pass wird nach Schwierigkeit kategorisiert und die ersten Fahrer, die einen Pass überqueren, bekommen (gestaffelt nach ihrer Reihenfolge) Punkte für die Bergwertung gutgeschrieben. Je anspruchsvoller der Berg kategorisiert ist, umso mehr Punkte gibt es zu holen.
Das Bergtrikot beim Giro d’Italia ist gegenwärtig blau (ehemals grün). Ferner gibt es noch eine Teamwertung. Für sie werden jeweils die besten drei Zeiten eines Teams nach Fahrern und Etappen berücksichtigt und zusammengezählt. Das Team mit der kürzesten Gesamtzeit gewinnt die Teamwertung.
Zu guter Letzt gibt es noch eine Auszeichnung für den besten Jungfahrer (U25) mit der geringsten Zeit im Gesamt-Klassement. Wie bei der Tour de France wird diese Wertung mit dem weißen Trikot geehrt. Erst in der jüngeren Geschichte des Giro d’Italia gelang es drei Fahrern, diese Wertung und den Gesamtsieg gleichzeitig einzufahren:
- Evgeni Berzin (1994),
- Nairo Quintana (2014) und
- Tao Geoghegan Hart (2020).
Giro d’Italia Fakten und Rekorde im Überblick
- Erste Austragung: 1909
- Rekordgewinner Gesamtwertung: Alfredo Binda, Fausto Coppi und Eddy Merckx (jeweils 5 Gesamtsiege)
- Rekordgewinner Bergwertung: Gino Bartali (7-facher Gewinner der Bergwertung)
- Rekordgewinner Punktewertung: Francesco Moser und Giuseppe Saronni (jeweils 4 Siege in der Punktewertung)
- Die meisten Etappensiege: Mario Cipollini (42 Etappensiege)
- Meiste Tage im rosa Trikot: Eddy Merckx (78 Tage)
Die Geschichte des Giro d’Italia – Vom Experiment zum Erfolg
Dass der Giro d’Italia zu so einer Erfolgsgeschichte werden würde, war keineswegs vorauszusetzen. Tatsächlich wurde die Veranstaltung fast schon ein wenig aus der Not geboren. Und zwar war es die italienische Sportzeitung „La Gazzetta dello Sport“, welche die italienische Rundfahrt ins Leben rief. Damit wollte man dem Konkurrenzblatt „Corriere della Sera“ zuvorkommen, das ähnliche Absichten hegte und mit der Ausrichtung eines Autorennens bereits einen guten Erfolg diesbezüglich vorzuweisen hatte.
So schoss man bei der „Gazzetta dello Sport“ aus der Hüfte und verkündete am 07. August 1908 die Ausrichtung des ersten Giro d’Italia im Folgejahr. Zwar war die Finanzierung zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Doch wollte man der Konkurrenz hier nicht das Feld überlassen. Zumal die Gazzetta dello Sport bereits gute Erfahrungen mit der Ausrichtung der Tagesrennen Giro di Lombardia und Milan-San Remo machen konnte. Zwei Eintagesrennen, die heute zu den fünf monumentalen Eintagesrennen im Renn-Kalender der UCI gehören. Im Mai 1909 fand die erste Ausgabe des Giro d’Italia statt.
Die erste Auflage des Giro d’Italia war (wie auch im Fall der Tour de France) noch ganz anders strukturiert als der heutige Wettbewerb. So gab es zunächst weit weniger Etappen (acht an der Zahl), die jedoch im Schnitt ein ganzes Stück länger waren; mit über 300 Kilometern Etappenlänge im Durchschnitt. Das Ganze absolviert auf den schweren Fahrrädern des frühen 20. Jahrhunderts, die mit den optimierten Rennmaschinen von heute wahrlich nicht zu vergleichen sind.
Da kann es auch kaum überraschen, dass von den 166 angetretenen Fahren mit 49 Fahrern nicht mal ein Drittel die komplette Rundfahrt absolvierte. Das Feld bestand dabei, anders als heute, nicht nur aus Teams sondern auch aus Einzelfahrern, die allein für sich antraten. Überdies wurde der Gesamtsieger durch ein Punktesystem evaluiert. Erst ab 1914 wurde die Gesamtzeit als Gradmesser herangezogen.
Zunächst eine rein italienische Angelegenheit
Erster Gesamtsieger des Giro d’Italia wurde der Italiener Luigi Ganna, der auch drei Etappensiege verbuchen konnte. Er erhielt 5.325 Lire Preisgeld. Ihm sollten über die nächsten vier Jahrzehnte nur italienische Gesamtsieger nachfolgen! Damit war der Gio d’Italia national weit stärker von der ausrichtenden Nation dominiert, als es bei der Tour de France der Fall war. Zwar wurde auch die zunächst nur von Franzosen gewonnen. Doch bereits ab 1909 (der siebten Auflage der Tour) konnten sich regelmäßig ausländische Gewinner in die Historie des Wettbewerbs eintragen. Im Falle des Giro sollte es jedoch bis 1950 dauern, ehe es den ersten nicht-italienischen Gesamtsieger gab! Zum Vergleich: Bei der Tour de France hatten bis dahin 20-mal Nicht-Franzosen einen Gesamtsieg einfahren können.
Entsprechend prägend war diese Phase für den italienischen Radsport und der Giro wurde quasi zum Nukleus für Italien als bis heute noch große Radsportnation. Einige der größten italienischen Radsport-Legenden, deren Namen auch über die italienischen Landesgrenzen hinaus heute noch mit Ehrfurcht ausgesprochen werden, dominierten in dieser Phase den Giro d’Italia. Costante Girardengo, Giovanni Brunero, Alfredo Binda (erster fünffacher Gewinner des Giro), Fiorenza Magni und natürlich Gino Bartali und Fausto Coppi, geeint durch ihre legendäre Rivalität, wurden allesamt zu Ikonen des italienischen Radsports. Wobei allem voran Binda, Bartali und Coppi bis heute zu den größten italienischen Radsportlern gezählt werden. Alfredo Binda sollte auch später als Coach des Nationalteams sehr erfolgreich wirken.
Erst Eddy Merckx brach endgültig die italienische Dominanz
1950 gelang es dem Schweizer Hugo Koblet, als erster Nicht-Italiener den Giro d’Italia zu gewinnen. Doch auch in der Folgezeit blieb der Wettbewerb fest in italienischer Hand. Zwar konnten sich mit Carlo Clerici (Schweiz) 1954, Charly Gaul (Luxemburg) 1956 und 1959 sowie dem großen Jacques Anquetil (Frankreich) 1960 und 1964 noch weitere ausländische Gewinner eintragen. Doch alle anderen Gesamtsieger zwischen 1951 und 1967 waren weiterhin Italiener. Es brauchte mit Eddy Merckx nicht nur den größten belgischen Radsportler aller Zeiten sondern den bis heute erfolgreichsten Radsportler, um diese Dominanz nachhaltig zu erschüttern.
Belgien ist eine der erfolgreichsten Radsportnationen überhaupt. Und das, obwohl in Belgien selbst überhaupt keine große Rundfahrt ausgetragen wird. Dafür natürlich einige der Frühjahresklassiker – gipfelnd in der Flandern Rundfahrt und Lüttich-Bastogne-Lüttich. So dominierten bereits von 1912 bis in die 20er Jahre belgische Fahrer regelrecht die Tour de France. Doch beim Giro d’Italia brauchte es Eddy Merckx, der zwischen 1968 und 1974 fünf Rundfahrten gewinnen konnte und somit zu den Rekordgewinnern des Giro d’Italia gehört (neben Alfredo Binda und Fausto Coppi).
Seither öffnete sich das Rennen auch für ausländische Spitzenanwärter, wobei die Italiener jedoch immer prominent vertreten blieben und weiterhin regelmäßig Sieger stellten. Jedoch nicht mehr mit der bisherigen Regelmäßigkeit. Allein zwischen 1997 und 2007 gab es ausschließlich italienische Gewinner. Doch davor und danach unterbrachen vermehrt ausländische Fahrer die historische Phalanx der italienischen Radsportler, die ihr Monopol auf den Giro d’Italia aufgeben mussten.
Warum ist der Giro d‘Italia im Schatten der Tour de France?
Gleichwohl diese beiden Grand Tours sportlich und historisch wenig trennt, ist die Tour de France kommerziell wesentlich bekannter als der Giro d’Italia. Sie wird als das Prestigeträchtige Rennen wahrgenommen, dem mehr internationale Medienaufmerksamkeit und ein oftmals stärkeres Teilnehmerfeld zuteil wird. Der wahrscheinlichste Grund dafür ist genau das, was kurz zuvor angesprochen wurde: Die Tour de France wurde für internationale Beobachter einfach eher spannend, da dort auch weit früher internationale Fahrer erfolgreich waren.
Der Giro d’Italia war bis Ende der 60er eine nahezu rein italienische Angelegenheit, soweit es die Gesamtsieger betraf. Also bis zu einem Zeitpunkt, zu dem die Tour de France sich bereits den Nimbus als größte internationale Rundfahrt aufbauen konnte. Für die Franzosen ist das natürlich Fluch und Segen zugleich. Einerseits beherbergen sie dadurch das zweifelsohne am meisten beachtete Radrennen der Welt. Andererseits gab es aber seit 1985 keinen einzigen französischen Gesamtsieger mehr, wohingegen der Giro d’Italia noch weiterhin regelmäßig italienische Sieger sieht.
Ein Umstand, der sich auch in den Siegesbilanzen widerspiegelt. So gab es bislang (Stand: 2021) 69-mal einen italienischen Sieger bei einem Giro d’Italia, wohingegen es 36 französische Gesamtsiege bei der Tour de France gab. Dadurch ist der Giro d’Italia in Italien natürlich weiterhin das Radsport-technische Nonplusultra. Doch international steht er gegenüber der alles überschattenden Tour de France in einer Obskurität, die sportlich eigentlich nicht zu rechtfertigen ist. Denn beide Rennen gehören, neben der spanischen Vuelta, zu den schwersten ihrer Art!