Mythos Tour de France – Prestige und Skandale


Mythos Tour de France – Prestige und Skandale

Auch wenn der Radsport nicht die kommerzielle Zugkraft hat wie beispielsweise der Fußball in Europa oder die NFL in den USA, so ist ein Radsport-Ereignis nahezu jedem ein Begriff. Selbst jenen, die mit Radsport gar nichts am Hut haben. Die Tour de France ist, nach der Fußball WM und den Olympischen Spielen, das dritt-bekannteste mehrwöchige Sportereignis der Welt. Dabei ist die Tour de France keineswegs die einzige Radsport Rundfahrt diesen Ausmaßes. 

Der Giro d’italia und die spanische Vuelta stehen ebenfalls im Rang einer Grand Tour und kommen der Tour de France in Puncto Umfang und Schwierigkeitsgrad sehr nahe. Doch sind sie, außerhalb des Radsports, längst nicht so viel beachtet und weisen meist kein ganz so hoch dekoriertes Teilnehmerfeld auf.

Was hat ihn also geprägt, den Mythos der Tour? Und welchen Stellenwert hat sie heute – in Anbetracht der schweren Doping Skandale aus der jüngeren Geschichte?

tour de france flag

Radrennfahrer und Desperados

Bereits um die Jahrhundertwende, zwischen ausgehendem 19. Jahrhundert und beginnendem 20. Jahrhundert, formten sich erste Radsport-Wettbewerbe und nationale Meisterschaften. Darunter einige historische Eintagesrennen, die noch heute zu den wichtigsten ihrer Art zählen – die sogenannten Monumente des Radsports. Doch mit der Tour de France wurde erstmals eine mehrtägige Tour (zumindest in solcher Größenordnung) realisiert, wobei der Umfang an Etappen im Laufe der Jahre noch zunehmen sollte. Dafür waren die Etappen bei den früheren Auflagen erheblich länger als heute.

 

Natürlich war der Radsport 1903, dem Jahr der ersten Tour de France Auflage, längst nicht so professionalisiert wie heute. Dennoch lockte bereits ein, für damalige Verhältnisse, stolzes Preisgeld von 12.000 Francs für den Gesamtsieger – was dem Sechsfachen eines durchschnittlichen Jahreseinkommens für einen Arbeiter entsprach. Und auch jeder Etappensieger wurde mit je 3.000 Francs entlohnt. Das rief natürlich ein entsprechend abenteuerliches Teilnehmerfeld auf den Plan, in dem zwischen frühen Radsportprofis und unbekannten Desperados alles vertreten war. Entsprechend groß war das Leistungsgefälle. Nach sechs langen Etappen gewann mit Maurice Garin einer der Favoriten. Ein anderer Favorit war übrigens Deutschlands Josef Fischer, der wohl früheste Deutsche Radsport-Star.

 

Mythenbildung durch Rennhärte

In Puncto Ausdauer stellte die erste Tour de France 1903 für die Fahrer eine Pionierleistung dar.  Zwar waren es „nur“ sechs Etappen. Doch diese brachten es auf eine Gesamtlänge von über 2.400 Kilometern. Die durchschnittliche Etappenlänge lag also etwas über 400 Kilometer! Viel länger, als es heute selbst eine vergleichsweise lange Tour de France Etappe wäre. Teilweise wurde bis in die Nacht gefahren! Ferner war es den Teilnehmern nicht gestattet, im Windschatten von Teamkameraden zu fahren. Eine Praxis, die schon damals bei Radrennen nicht unüblich war. Doch ausgerechnet bei diesem längsten aller bisherigen Radrennen war sie verboten. Dieses Verbot hielt bis 1925 Bestand!

 

Der Schwierigkeitsgrad (und wohl auch das nur in Teilen professionelle Fahrerfeld) spiegelten sich im Endresultat wieder. So beendeten gerade einmal 21 Fahrer die Erstauflage der Tour de France. Der Letztplatzierte lag dabei mehr als geschlagene 64 Stunden hinter dem Gesamtsieger Maurice Garin, der sich vom Preisgeld später eine eigene Werkstatt finanzierte.

 

Die erste Tour de France wurde für den Ausrichter, das Sportmagazin L‘Auto, ein größerer Erfolg als gedacht. So konnte im Rahmen der Tour de France 1903 die Auflage des noch jungen Magazins verdoppelt werden. Nichtsdestotrotz war es zunächst keineswegs gewiss, ob es bei dieser Tour de France nicht bei einer einmaligen Sache bleiben sollte. 

 

Denn der organisatorische Aufwand war groß. Vor allem aber war es immens schwer, die Einhaltung der Regeln sicherzustellen, was insbesondere passionierte Zuschauer auf den Plan rief, die gerne mal die Konkurrenten ihres Favoriten von der Weiterfahrt abhielten. Und es gab wohl auch Fahrer, die sich diverse Abkürzungen gönnten.

 

Bereits die 2. Tour de France wurde zu einer „Skandaltour“ 

Letztlich erwies sich die erste Tour de France als derart lukrativ und war von so großem Zuschauerzuspruch, dass 1904 dann doch die zweite Auflage folgte. Doch gerade diese sollte zur ersten Skandaltour werden. Und das lange bevor irgendwer von „Doping“ sprach. Denn hier nahmen die Ausschreitungen und Regelbrüche, die schon bei der ersten Tour nur schwer auszuschließen waren, erheblich zu. Dies ging soweit, dass bereits während des laufenden Rennens neun Fahrer disqualifiziert wurden, weil sie stellenweise heimlich mit dem Auto oder dem Zug gefahren waren.

 

Doch der eigentliche Aufreger kam nach dem Rennen, als Investigationen dazu führten, dass sämtliche Etappengewinner und die ersten vier Platzierten im Gesamt-Klassement nachträglich disqualifiziert wurden. Darunter auch der abermals siegreiche Maurice Garin. Scheinbar fanden während des Rennens derart viele Manipulationen durch die Fahrer und durch übereifrige Zuschauer statt, dass dieses harte Durchgreifen als notwendig erachtet wurde. Der nachträgliche Gewinner der Tour de France 1904 wurde somit Henri Cornet, der mit 19 Jahren auch der bis heute jüngste Tour de France Gewinner aller Zeiten ist. Dieser frühe Skandal, der das gesamte sportliche Resultat über den Haufen warf, hätte fast das frühe Ende der Tour de France besiegelt.

 

Die Tour de France wird ein internationales Spektakel

Die Ausrichter der Tour de France waren über die Ereignisse von 1904 derart frustriert, dass sie eigentlich das Handtuch werfen wollten, was auch in einem Artikel in der L‘Auto klar benannt wurde. Doch waren die Zuwächse an Auflage zu gut, um diese Verzweiflung aufrechtzuerhalten. So brachte es die Tour de France 1905 dann gar auf elf Etappen. Jedoch wurden diese allesamt im Tageslicht abgehalten, da die meisten Betrügereien zuvor wohl des Nachts passiert waren. Die Popularität des Rennens nahm stetig zu und das Format wurde ausgefeilter.

 

Derweil schnellte die Auflage des Ausrichters L‘Auto in zunehmend deutlich sechsstellige Höhen. Nicht schlecht für ein Magazin, das gerade einmal drei Jahre vor der ersten Tour de France gegründet worden war. Heutzutage heißt L‘Auto übrigens L‘Equipe und ist die bedeutendste Sportzeitung in Frankreich. Eine Entwicklung, die ohne die Tour de France kaum denkbar gewesen wäre.

 

Die Tour de France selbst reifte indes immer mehr zum international anerkannten Rennspektakel von zunehmendem Prestige. Das lag vor allem daran, weil es die Tour de France weit früher als der Giro‘d‘italia verstand (der nur wenige Jahre später gegründet worden war) ein internationales Fahrerfeld antreten zu lassen. Das bedeutete auch wesentlich früher internationale Gewinner und somit internationale Presseaufmerksamkeit. Etwas, was für die populäre Weichenstellung des Rennens sehr bedeutend sein sollte und den Radsport auch über die Grenzen Frankreichs hinaus förderte.

 

Die Tour de France wird zum Goldstandard

Gespeist wurde der Mythos der Tour de France insbesondere aus den heroischen Ausdauer-Leistungen, die auf den schweren Fahrrädern und den (verglichen zu heute) maroden Straßen in den ersten Auflagen notwendig waren. Das Ganze wurde dann noch auf eine neue Spitze getrieben (buchstäblich) als ab 1910 erstmals Etappen im Hochgebirge – zunächst in den Pyrenäen – inkludiert wurden. Jedoch sollte es bis 1933 dauern, bis eine Bergwertung eingeführt wurde. Und ab Mitte der 20er Jahre, als die Windschattenfahrt erlaubt wurde, gewannen auch Team Taktiken an Bedeutung.

 

Nach und nach avancierte die Tour de France zum Vorbild dessen, was ein internationales Etappenrennen ausmacht. Viele der Neuerungen, die dort jeweils eingeführt wurden, fanden später auch bei anderen Etappenrennen Nachahmung. Insbesondere die Ermittlung des Gesamtsiegers war dabei noch in den früheren Auflagen variabel. Das lag daran, weil der Gesamtsieger zunächst phasenweise durch Punktgutschriften für Etappenresultate und nicht etwa durch die absolvierte Gesamtzeit ermittelt wurde. Die frühe Führungsriege der Tour de France konnte sich zunächst mit beiden Systemen nicht so richtig anfreunden.

 

Ein Gesamtsieg gemäß der schnellsten Gesamtzeit beinhaltete immer das Risiko, dass einzelne Etappen bereits vorentscheidend sein konnten, wenn sich dort bereits große Lücken auftaten. Doch ein Gesamtsieg nach Punktevergabe war weniger objektiv, da ein knapper Etappensieg so viel wert war wie ein deutlicher. Zumal auch immer das Risiko bestand, dass die Fahrer bis kurz vor dem Ziel eine ruhige Kugel schoben, da es keinen Zeitdruck gab. Letztlich setzte sich die Gesamtzeit als Gradmesser durch. So ist es heute, bei allen professionellen Etappenrennen üblich. Lediglich in Gestalt des (bei der Tour de France) grünen Trikots hat sich eine separate Punktwertung bewahrt.

 

Doping – Schon lange ein Thema, ehe es zum Reizthema wurde

Bei einem Performance-lastigen Rennen von solcher Härte und von derartigem Prestige bleibt es leider nicht aus, dass Doping eine große Versuchung darstellt. Und dass nicht erst seit den 90er Jahren, als EPO voll im Fahrerfeld bei den Radsportwettbewerben dieser Welt ankam. Bereits der historistisch erste fünffache Rekordgewinner der Tour de France, Jacques Anquetil, bekannte sich quasi offen dazu, aufputschende Mittel einzunehmen. Denn in den 50er und frühen 60er Jahren war das noch vollkommen legal – weil (im Sport allgemein) wenig bis überhaupt nicht getestet wurde. Ein Zitat von Anquetil lässt besonders tief blicken, mit welchem Selbstverständnis schon damals im Radsport gedopt wurde:

 

„Seit 50 Jahren nehmen Radrennfahrer Stimulanzien ein. (Anmerkung: Die meisten Dopingmittel aus jener Zeit waren wohl Aufputschmittel, wie Amphetamine) Natürlich können wir in einem Rennen auf sie verzichten, aber dann werden wir 15 Meilen pro Stunde (statt 25) in die Pedale treten. Da wir ständig aufgefordert werden, noch schneller zu fahren und noch größere Anstrengungen zu unternehmen, sind wir gezwungen, Stimulanzien zu nehmen.“

 

Zugegeben, würde das irgendein überführter Fahrer aus der letzten Reihe sagen, müsste man dem nicht viel Bedeutung beimessen. Aber hier spricht wie gesagt ein fünffacher Tour de France Gewinner! Und die Fahrer sind seither gewiss nicht langsamer geworden. Derweil wurden die Dopingmittel immer ausgefeilter. Heute spielen Amphetamine im Dopingbereich des Ausdauersports keine große Rolle mehr.

 

Dopingskandale erschüttern das sportliche Selbstverständnis

Ein genaueres Hinschauen seitens der Öffentlichkeit brachte erst der Todesfall von Tom Simpson am Mont Ventoux, als er bei der Tour de France 1967 mehr Tod als lebendig mit dem Fahrrad umkippte. Er verstarb wenig später. In seinem Blut wurde ein Cocktail aus Alkohol und Amphetaminen gefunden. Dadurch rückte das Thema Doping mehr in den Fokus der Radsportfans. Allerdings dauerte es noch lange, ehe es ernsthaft verfolgt wurde. Erst bei der Skandaltour von 1998, als sowohl im unmittelbaren Vorfeld als auch während der laufenden Tour bei mehreren Teams Ampullen und diverse Präparate gefunden wurden, wurde das erschreckende Ausmaß von systematischem Doping bekannt.

 

Umso verstörender war daran, dass die Teams sich miteinander solidarisierten und die laufende Tour de France teilweise bestreikten oder unter Protest von dem Rennen zurücktraten. Ein klarer Nachweis dafür, wie tief Doping im Radsport verwurzelt war. Einsicht? Fehlanzeige! Daran änderte auch die anschließende Gründung der WADA (Welt Anti-Doping Agentur) unter Beteiligung der UCI wenig. Denn es folgte die berüchtigte Ära von Lance Armstrong. Eine Epoche, die nur Fahrer bei der Tour de France um den Gesamtsieg fechten sah, von der selbst Fahrer aus dem erweiterten Favoritenkreis dieser Tage (außer dem Spanier Carlos Sastre) alle im Laufe der Jahre des Dopings überführt wurden. Auch deutsche Helden wie Erik Zabel, Jan Ullrich oder Andreas Klöden.

 

Ist die Tour de France heute geläutert?

Öffentlich hat die Tour de France das Tal der Tränen, das der Ära Armstrong folgte und Einbußen bei den internationalen TV Geldern bedeutete, überwunden. Heutzutage ist der Wettbewerb wieder zu alter kommerzieller Zugstärke zurückgekehrt. Allerdings funktioniert die alte Omerta getreu dem Motto: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“, nur noch bedingt. Zu umfassend waren die Dopingenthüllungen um und diesseits der Jahrtausendwende. Auch in Form geständiger Fahrer wie Jörg Jaksche oder Tyler Hamilton, die heute ganz offen davon sprechen, wie institutionalisiert das Doping im Peloton ablief.

 

Und ob sich das bis heute wirklich umfassend geändert hat, bleibt hoch fraglich. Die Etappenzeiten haben sich kaum verändert. Und es schafft auch nicht gerade Vertrauen, dass die großen Doping Enthüllungen von 1998 und diesseits des Jahres 2000 im Grunde genommen fast immer das Ergebnis von Polizeiarbeit waren – und nicht von Dopingkontrollen. Das kann man auch daran ermessen, dass Lance Armstrong alleine gute und gerne über 200-mal im Laufe seiner Karriere getestet worden war – ohne jemals in diesem Kontext aufzufallen.

 

Das Doping ist natürlich keine Problematik, die allein der Tour de France anhaftet, sondern den Radsport insgesamt belastet. Doch ist die Tour de France nun mal die größte Bühne des Radsports und ihr heroisches Image hat folglich recht deutlich gelitten. Vor allem aber: Hinter großen Bühnen liegen tiefe Kulissen. Und in denen kann viel passieren. Das wusste schon Jacques Anquetil. Und die Fahrer heute wissen es mit Sicherheit auch.

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